Manchmal passieren Ereignisse so, als sollte man auf etwas aufmerksam gemacht werden. Klingt jetzt vielleicht etwas verschwiemelt, ist aber im Nachhinein noch immer mein Empfinden. Duplizität der Ereignisse …
Also,was ich erzählen will: Im Autoradio hörte ich auf Deutschlandfunk einen Beitrag über Wolfgang Herrndorf. Und da ich mich zur Zeit auch intensiv mit dem Leben mit unheilbarer, todbringender Krankheit beschäftigen muss, war mir das Schicksal des Mannes sehr nahe und mein Interesse an seinem Werk geweckt. Spiegelbestseller zu sein, reicht mir nicht, um lesebegierig nach einem Buch zu werden, da ich mich nicht gern vom allgemeinen Rummel um ein Buch beeinflussen lasse. Solche Bücher stehen dann auf meiner Liste der irgendwann mal zu lesenden Bücher – und geraten dadurch auch oft in Vergessenheit.
Dieses nun nicht, denn da war der Rundfunkbeitrag und am selben Abend sah ich bei meiner Schwiegertochter den Roman „tschick“ , den sie gerade für den Deutschunterricht in ihrer Ausbildung las und den ich mir dann auch ausborgte.
Tschick ist ein kleiner, leicht lesbarer Roman, der auch von Lesefaulen gut zu bewältigen ist, was für schulische Pflichtlektüren ein großes Plus ist.
In der Empathie erzeugenden Ich-Form bekommt der Leser Passagen aus dem bisherigen Leben des Jugendlichen Maik Klingenberg erzählt, wie der neue Mitschüler Andrej Tschichatschow in die Klasse kommt und wie die zwei verschiedenen Jungen mit ähnlichen Problemen eine Urlaubsreise in die „Walachei“ machen, bei der eine Freundschaft entsteht, die auch nach einer aus der Reise resultierenden Gerichtsverhandlung bestehen wird.
Dieser kleine Roman ist groß in einzelnen Szenen, besonders gegenwärtig ist mir hier die Passage über den Schulaufsatz samt Reaktion des Lehrers darauf; das Gespräch zwischen den Jungen, ob es jüdische Zigeuner und ob es die Walachei gibt oder wie sie zwar wissen, dass man man mit einer Armbanduhr die Himmelsrichtung bestimmen kann aber nicht wie – und wie sie es am Ende herausbekommen. Auch ihr Zusammentreffen mit „Adel auf dem Radl“ oder wie der Vater seinen Sohn zusammenschlägt, während er sich über dessen Freundschaft zu einem jugendlichen Schwarzfahrer und Autodieb aufregt, weil die dem Vater ein schlechtes Image geben würde blieb mir noch nach der Lektüre sehr gegenwärtig.
Die Passage mit dem schießwütigen Rentner im Abrissdorf empfand ich irgendwie den Roman störend, obwohl sie auf sexuelle Orientierung eingehen und ihre Dialoge Tiefe haben. Doch fast zuviel, denn ich bin mir sicher, dass über die „kommunistische Widerstandsgruppe Ernst Röhm“ hinweggelesen werden wird. Diese Passage mit dem Rentner ist so komplex, sie könnte als Kurzgeschichte richtig gut bestehen.
Fakt ist, dieses Büchlein bietet Diskussion- und Gesprächsstoff für eine längere Zeit, als man zum Lesen benötigt hatte.
Die im Roman verwendete Jugendsprache schien mir zwar nicht wirklich authentisch, aber da schon eine Schule weiter andere Schlagworte angesagt sind als in der Schule in meiner Straße brauche ich das auch nicht.
„Echt“ klingt Jugendslang wirklich oft grauslich, dass sich der Autor für seine Sprachform entschieden hat,akzeptiere ich daher gern so, wie ich sie gelesen habe. Denn wie er schrieb, beinhaltet es vieles, was Jugendsprache kennzeichnet.Bedeutungsverschiebungen bzw. –veränderungen, Bedeutungserweiterungen oder -verengungen, Wortveränderungen und -neuschöpfungen, Superlativierungen. Diese Sprache grenzt sich eindeutig durch ihren affektiv – emotionale Aspekt von der „üblich“ gesprochenen Sprache ab und erfüllt somit die Funktion „Jugendsprache“, ist aber so gestaltet, dass sie auch von nachfolgenden Generationen in ihrer Bedeutung ohne Erläuterung weitgehend erfasst werden könnte.(Nur bei „alter Finne“ bin ich da im Zweifel.)
So sehr die gewählte Erzählperspektive (Ich-Form) auch half, sich in den Protagonisten Maik Klingenberg einzufühlen, ein Problem hat diese Perspektivwahl.
Über das Leben von Andrej Tschichatschow blieb der Leser trotz aller Dialoge wie sein Freund Maik stückweise im Ungewissen – und fast bedaure ich, dass dieser eher stereotyp angelegte Protagonist eigentlich nur für die Schlüsselfunktion zum „inneren Wachsen“ des Jugendlichen Maik Klingenberg dienen sollte, denn er fand mein Gefallen und Interesse.
Dieser Roman ist nicht, wie man meinen könnte, schnell heruntergeschrieben worden. Der Autor begann, wie man auf seinem Blog lesen konnte, die Arbeiten daran im Jahre 2004 und hat ihn im Jahr seiner Erkrankung beendet. Dieser Roman ist auf einer „höheren Ebene“von seiner Persönlichkeit und ein bisschen von seiner Biografie geprägt worden, denn vieles finde ich auf diesem Blog wieder.
Alles in allem ist „Tschick“ ein Buch, das anregt, Vorurteile zu überdenken und hilft, sich selbst im Leben „einzunorden“. Dieses Buch klingt im Leser länger nach, es ist ein richtig gutes Buch.
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