für die Woche 23/2009 erzählt


Kleine Göttin

© Christine Kühnel

Nach einer Kindheit voller Hamster, einer Jugend voller Meerschweinchen und Häschen, einer rebellischen Phase voller Ratten, dachte ich mir einst, dass ich nun in ganz andere Gefilde vorstoßen sollte. Ich war nun wirklich experimentierfreudig und wollte das Nützliche mit dem Exotischen verbinden. Meinem natürlichen Argwohn gegen „Kriechmitlebewesen“, sollte es endlich an den Kragen gehen, nachdem ich im Fernsehen eine Dokumentation über Gottesanbeterinnen, sah. Wunderschön waren die so genannten Mantiden, Orchideenblüten gleichend, weiß und herrschaftlich leuchteten sie mir vom Bildschirm entgegen und faszinierten mich.
Mir ein Insekt anzuschaffen, schien mir vernünftig, ich würde mich sicher an etwas, was keinen flauschigen Pelz vorzuweisen hat, gefühlsmäßig nicht mehr einbinden und trotzdem ein Haustier haben. So zog ich los in einen Laden, um den ich sonst einen gehörigen Bogen machte, quetschte mich an der Mauer entlang, um nicht in die Nähe der Schlangen zu kommen, robbte fast auf dem Boden an den Spinnen vorbei und wich im zick-zack Terrarien mit Skorpionen aus. Und dann endlich stand ich vor einer winzigen Plastikdose mit etwas noch Winzigerem, Grünem darin.
„Das ist aber keine Orchideen-Mantis“, bemerkte ich klug. Daraufhin machte mir der Verkäufer allerdings sofort klar, dass ich mit solchen Ansprüchen nicht weit käme. Sich direkt eine solche Exotin anzuschaffen, bedeute ein schlechtes Geschäft, sie würde eingehen, bevor ich ‚ex und hopp‘ sagen könne. Ich solle mit dem Standard Modell anfangen und mich dann steigern.
So nahm ich also das beengte Wesen mit und ärgerte mich an der Kasse, dass ich nicht in einer Gegend wohne, wo ich mir so etwas direkt von der Wiese wegfangen kann. In der Bahn betrachtete ich es argwöhnisch. Als es auf einmal begann sich zu putzen, wurde ‚es‘ zu ’sie‘. Sie putzte sich, wie man sich halt so putzt, ging mit den Zangen hinter die Augen, säuberte sie dann mit dem Mäulchen gesäubert, dann wieder von vorn. Etwas, das sich putzt kann nicht ohne Namen bleiben, flüsterte mein schmelzendes Herz mir zu.
So nannte ich sie Jane. Etwas, das einen Namen hat, kann aber auch nicht in so einer Plastik Box leben und so kaufte ich ihr ein für ihre Größe palastähnliches Terrarium mit duftendem Bodenbelag, zahlreichen Sitzmöglichkeiten und einer Miniatur-Säule, die an römische Ruinen erinnerte. Ich betrachtete sie stundenlang, wie sie auf ihren Ästen herum schunkelte und somit ein sich im Wind wiegendes Blatt imitierte. Liebte es, sie in ihrer pittoresken Umgebung kopfüber von der Säule baumeln zu sehen, wo sie die vorbei hastenden Futtertiere, Heimchen, aus dem Hinterhalt attackierte und gewöhnungsbedürftig verschlang. Wurde schuldbewusst, wenn ich, zwar vorschriftsmäßig, aber ungeliebt, ihr Reich mit der Blumenspritze für die nötige Luftfeuchtigkeit einnebeln musste und sah ihr traurig nach, wenn sie sich dann würdevoll in den Schutz ihrer Kunstpflanzen zurückzog. Der Tag, an dem sie sich häutete und ein paar wunderschöne, maigrüne Flügel zum Vorschein kamen, war einer der schönsten meines Lebens.
Eines schönen Abends jedoch – ich machte gerade auf der Couch ein Nickerchen – bemerkte ich, wie Hund und Katze, so leise sie nur konnten, in der Küche irgendeinem famosen Spaß nachgingen. Als ich nachschaute, erwischte ich sie bei einer geschmacklosen Heimchenjagd. Einige von den Hüpfern hatten sich aus ihrer kleinen Plastikbox befreit und sprangen verzweifelt in alle möglichen Richtungen, wohl Freiheit vermutend, aber erwartet wurden sie von erbarmungslosen Pfötchen, die immer wieder auf sie niedersausten.
Wesen, die so verzweifelt um ihre Freiheit kämpfen, können unmöglich in einer Plastikdose wohnen. Ich zog also am nächsten Tag los und besorgte ein riesiges Heim für die Heimchen, richtete es so abwechslungsreich wie möglich ein, stampfte einen Miniatur-Freizeitpark aus dem Plastik, raspelte Möhrchen hinein, fütterte mit Calcium-Gel, für Gesundheit und Wohlbefinden. Die Krönung meiner Sorgfalt sollte die Verjüngung der Population bilden und so ging ich los und kaufte ihnen rund zwei Dutzend Kameraden, die noch winzig klein und süß waren. Ihre geringe Größe machte es mir allerdings im Anschluss dann auch schwer, sie in Windeseile wieder aus der Box herauszufischen, da die Senioren begonnen hatten, sie in aller Ruhe aufzufressen.
Die armen Kleinen, dachte ich mir. Wer so knapp dem Tode entronnen ist, der kann nicht in so einer winzigen Plastikbox leben, ich zog los, besorgte ein riesiges Heim, richtete es noch verspielter ein, immerhin waren hier die Kleinen zu Hause und benötigten in meinen Augen eine kuscheligere Umgebung. Beide Völker lebten in einer Art trügerischem Glück, denn irgendwann wurde es immer wieder Zeit für die Fütterung Janes, die ich ungebremst für ihre Unabhängigkeit und die geheimnisvolle, erhabene Ausstrahlung abgrundtief vergötterte. Trotzdem, jedes Mal wenn ich meine kleine Göttin füttern musste, musste ein kleiner Parkbewohner dran glauben. Ich fischte aus der Altenheim-Anlage immer die heraus, die sowieso schon lahm und schwächlich aussahen, ließ die jüngere Generation immer in Ruhe, bis ich die Ältere vollständig verfüttert, oder der natürliche Tod sie dahin gerafft hatte. Doch irgendwann kam immer die Zeit, in der nun auch meine Heimchen, die ich von klein auf gehegt und gepflegt hatte, in die Opfer-Box übersiedeln mussten. Es wurde ein ewiger Kreislauf von Faszination und Schuldgefühlen, ich betete meine kleine Göttin zwar an, wollte es an ihr nichts fehlen lassen, hatte aber Mitleid mit den armen anderen Gefangenen und kam mir immer wie ein römischer Kaiser, mit chronisch nach unten zeigendem Daumen vor, wenn ich die Heimchen in das Reich der kleinen Göttin setzte. Es ging sogar so weit, dass ich versuchte, Jane auf Diät zu setzen.
Das hatte aber nur zur Folge, dass sie meine Mitbewohnerin ansprang, als diese ihr Terrarium einnebeln wollte. Jane attackierte und knabberte sie an. Auf unsere Größe umgerechnet, entfernte sie gut und gerne ein Stück von der Größe eines ansehnlichen Putensteaks aus Maras linkem Zeigefinger. Ich fing die arme, mit hoch erhobener linker Hand im Kreis laufende, und dabei fürchterlich kreischende Gestalt ein, nahm vorsichtig meine kleine Göttin von ihrer selbsterwählten Opfergabe und setzte sie zurück auf ihren Ast, wo sie zunächst bekümmert zu Boden blickte, dann ihr kleines, grünes Gesichtchen zu mir erhob und begann, versöhnlich hin und her zu schunkeln. Ich traf eine Entscheidung und von diesem Tag an, machte ich keine Abstriche, was die Pflege meiner kleinen Göttin anging. So verging eine glückliche Zeit, bis dann eines Tages die Natur ihren Lauf nahm. Ich fand Jane, meine kleine Göttin Jane, tot auf dem Boden ihres Terrariums. Sie war so überdurchschnittlich alt geworden, dass ich zwischenzeitlich schon vergessen hatte, mit ihrem Tod zu rechnen. Ich war so am Boden zerstört, dass ich es nicht über das Herz brachte, sie den Freizeitpark-Senioren zur Fütterung zu überlassen (ich hatte das als eine Art Wiedergutmachung geplant), sondern vollzog eine Seebestattung im Park, an der Stelle wo ich auch Mäuse (bisher Keks, der I. bis Keks, der IV.) bestatte, die meiner Katze zum Opfer gefallen sind. Die Freizeitpark-Populationen nahmen desinteressiert an der Zeremonie teil, ich nahm es ihnen nicht übel, hatten sie doch eine ganz andere Einstellung zu meiner kleinen Göttin.
Ich ließ sie im angrenzenden Gebüsch frei und freute mich, sie zwar teilweise etwas steif, aber motiviert davonhopsen zu sehen.
In Jane’s Terrarium steht jetzt Ginger, das ist eine fleischfressende Pflanze. Das einzige Opfer, das sie fordert, ist Regenwasser aus der Gartentonne, damit sie schön wachsen und gedeihen kann …